Als ich vor anderthalb Jahren AIESEC in Göttingen nach meiner eigenen Auslandserfahrung beigetreten bin, dachte ich nicht, dass ich lange bleiben würde. Mein ursprünglicher Grund beizutreten war das internationale Netzwerk der Organisation, von dem ich mir versprach, nach meinem Studium profitieren zu können. Also begann ich meine Arbeit im lokalen Komitee in Göttingen, in welchem ich soziale Projekte im Ausland an interessierte junge Menschen vermittelte und sie während sowie nach ihrer Auslandserfahrung betreute.
Etwa zwei Wochen nach meinem Beitritt wurden Vorstandswahlen das erste Mal thematisiert. Ich weiß noch, dass ich ganz verwirrt war, warum man mit mir darüber sprach – ich war ja ganz neu und hatte von nichts eine Ahnung. Schließlich bewarb ich mich trotzdem auf einen Vorstandsposten, weil ich von meinem Studium gelangweilt war und die Herausforderung suchte. Bis heute habe ich es nicht bereut, denn “Herausforderung” war genau das, was ich bekam, allerdings in einem Maße, das ich niemals habe kommen sehen.
Meine Zeit im Vorstand einer Organisation, deren alltägliche Arbeit darin besteht, Auslandsaufenthalte und interkulturellen Austausch zu fördern, begann am 1. Februar 2020. Zu dieser Zeit waren in Deutschland sieben Menschen mit COVID-19 infiziert. Wie wir alle vermutlich noch wissen, wurde die Lage ab da immer schlimmer und an Auslandsaufenthalte war bald nicht mehr zu denken.
„Schlimmer“ bezeichnet allerdings nicht den Verlauf meiner Vorstandszeit, eher das Gegenteil. Nach dem ersten Schock, dass ich meine Arbeit nun komplett umstrukturieren muss und nicht das machen kann, für das ich mich ursprünglich angemeldet hatte, ging die krasseste Lernerfahrung meines Lebens los.
Die erste große Herausforderung bestand darin, sinnvolle Projekte zu starten, die meinen damals vier Teammitgliedern Spaß machen, aber auch ihre persönliche Entwicklung unterstützen. Das Schlimmste, was ich mir für meine Teammitglieder vorstellen konnte, war, dass sie auf ihre Zeit bei AIESEC zurückblicken würden und nichts gelernt hätten.
Normalerweise ist die Kundenbetreuung und die Vermittlung von Auslandsprojekten der größte Teil der Lernerfahrung, doch das fiel nun weg. Das nächste große Problem war die Organisation eines Team – ausschließlich über Online-Meetings. Wie ich diese Online-Meetings anfangs verflucht habe: Ständig hatte jemand Probleme mit dem Internet, es kam zu Missverständnissen und das Team brauchte sehr viel länger um zusammenzuwachsen, als es mir lieb gewesen wäre.
Diese Herausforderungen zwangen mich dazu, lösungsorientiertes Denken zu entwickeln und was soll ich sagen – diese Fähigkeit zu beherrschen, hat mir seitdem schon mehrfach die Arbeit und auch das Studium erleichtert.
Schließlich fanden wir als Team einen Weg, um weiter einen Mehrwert für junge Menschen bieten zu können, ohne sie dafür ins Ausland zu schicken. Die Probleme, vor die uns die Pandemie stellte, gemeinsam zu durchleben, ließ uns als Team so eng zusammenwachsen, dass ich die meisten von ihnen ab einem bestimmten Punkt nicht mehr als Kolleg:innen betrachtete, sondern als Freunde oder sogar Familie.
Die Freude darüber, dass wir uns im Sommer nach fünf Monaten der engsten Zusammenarbeit endlich persönlich sehen konnten, war überwältigend. Niemals werde ich vergessen, wie es war, einige das allererste Mal richtig zu sehen, nachdem wir bereits Freundschaft geschlossen hatten.
Meine Angst, dass mein Team nichts lernen würde und somit keine gute Erfahrung haben würde, erfüllte sich nicht. Es war für mich das Allergrößte zu sehen, wie sich jedes meiner Teammitglieder durch alltägliche Aufgaben weiterentwickelte: Präsentationen halten, Diskussionen führen, Feedback geben – das sind nur Beispiele für Fähigkeiten, die von Arbeitgeber:innen immer wieder gefordert sind, und die meine Teammitglieder auch außerhalb der Kundenbetreuung und des Marketings erlernt oder verbessert haben.
Auch ich habe mich in einem Tempo entwickelt, mit dem ich nie gerechnet hätte. Über meine erlernte Lösungsorientierung habe ich schon gesprochen, aber eigentlich habe ich noch viel mehr gelernt. Obwohl ich erst 21 Jahre alt bin, durfte ich die Erfahrung machen, ein Team zu leiten, weshalb ich genau weiß, wie mein Führungsstil aussieht.
Mein Zeitmanagement ist besser geworden und ich bin stressresistenter, was daran liegt, dass ich nun nicht nur mein Studium organisieren musste. Außerdem bin ich zu der Einsicht gekommen, dass ich zu mehr fähig bin, als ich mir zutraue, und dass sich tatsächlich durch jede Herausforderung, die man annimmt, der eigene Fähigkeitsbereich erweitert.
Nie wieder werde ich „nein“ zu etwas sagen, auf das ich eigentlich richtig Lust habe, weil ich mir einrede, dass ich es nicht schaffen würde. Ab jetzt sage ich nur noch „ja“ zu jeder Möglichkeit, meinen Fähigkeitsbereich zu erweitern. Ohne Angst Herausforderungen anzunehmen und mich weiterzuentwickeln, erfüllt mich mit mehr Stolz, als es jemals eine Note in der Uni könnte.
Ich bin voller Dankbarkeit darüber, dass mir vor anderthalb Jahren die Position im Vorstand zugetraut wurde, und mittlerweile kann ich mir die Frage selbst beantworten, warum man es mir nach nur zwei Wochen Mitgliedschaft vorschlug: Bei AIESEC geht es darum, dich herauszufordern und an Problemen zu wachsen. Und wer ist von der Position im Vorstand einer Organisation mehr herausgefordert als jemand, der gerade erst beigetreten ist?
Außerdem wussten meine Vorgänger:innen, dass man niemals alleine ist. Es gibt dein Team, dass dich kennt und unterstützt. Es gibt Menschen, die mehr Erfahrung haben, und die liebend gerne helfen. Es gibt andere Vorstandsmitglieder, die sich in der gleichen Position wie du befinden und vor die gleichen Herausforderungen gestellt sind. Alles was du tun musst, ist einsehen, dass du nicht alles alleine schaffen musst, dass um Hilfe fragen vollkommen in Ordnung ist und, dass Hilfe annehmen zu können eine Fähigkeit ist, die viel mehr Menschen beherrschen sollten. Am Ende war es tatsächlich das Netzwerk, dass schon am Anfang mein Grund war beizutreten, das mich in all der Zeit unterstützt hat. Ich habe nicht erst nach meinem Studium davon profitiert, sondern tue es seit anderthalb Jahren jeden Tag.
Wenn mich also jemand fragt, welche sechs Wörter meine Erfahrung als Mitglied bei AIESEC in Göttingen am besten beschreiben, dann würde ich sagen: Herausforderung, Freundschaft, Teamarbeit, Persönliche Entwicklung, Einmalig.
Worauf wartest du also noch? Nutze jetzt deine Chance: Profitiere wie Lea von dem internationalen Netzwerk und den Herausforderungen, um dich weiterzuentwickeln!